Schamanismus und Vegetarismus schließen sich aus
Oder: Gibt es Vegetarismus bei Naturvölkern?
© Claudia Müller-Ebeling, 2001
In unserem Buch Schamanismus und Tantra in Nepal (Müller-Ebeling, Claudia, Christian Rätsch und Surendra B. Shahi, 2000 vom Schweizer AT-Verlag publiziert) merkten wir an, dass sich Schamanismus und Vegetarismus ausschließen. Da diese Aussage wiederholt heftig diskutiert und in Frage gestellt wurde, sei dazu folgendes ausgeführt.
Für schamanische Gesellschaften ist das gesamte Universum beseelt und belebt. In ihrer Wertschätzung alles Lebendigen machen sie keinen Unterschied zwischen kosmischen Kräften, Naturelementen, Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen. Ihr Denken beruht nicht wie unseres auf einem linearen Dualismus von Gut und Böse, Richtig und Falsch, sondern allein auf der empirischen Beobachtung der Natur, die zyklisch verläuft und "ist"! Mal so, mal so. Ob gut oder böse ist einzig vom relativen Kontext und jeweiligen Standpunkt abhängig.
Im Gegensatz zu uns akzeptieren sie die universale Dynamik von Werden und Vergehen, Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit. Naturvölker erklären die Gesetze der Natur mythologisch; die aufgeklärte westliche Welt wissenschaftlich. Beiden Erklärungsmodellen liegen letztlich dieselben Prinzipien zugrunde und führen zu ähnlichen Schlußfolgerungen. Lediglich die Terminologie ist verschieden.
Schamanische Gesellschaften und Naturvölker beziehen sich auf das kosmische Prinzip von Geben und Nehmen und gehen selbstverständlich davon aus, dass jede Form des Lebens in diesen Kreislauf eingebettet und existentiell vom Leben anderer abhängig ist. Jede Lebensform schenkt anderen das Leben, nimmt am ewigen Kreislauf des Lebens teil und ist Teil einer Nahrungskette.
Ob eine Pflanze Licht, Wasser und Mineralstoffe "verschlingt", um wachsen zu können; ob Tiere sich von Pflanzen oder Fleisch ernähren und ob Menschen pflanzliche oder tierische Nahrung zu sich nehmen macht für schamanische Kulturen und Naturvölker keinen Unterschied. Für sie gilt einzig das Prinzip: Alles lebt und daher bedingen sich Leben und Sterben gegenseitig! Wer nehmen will muß geben! Wer leben will muß töten! Wer sich rein vegetarisch ernährt — ob als Makrobiot, als Laktovegetarier oder Rohköstler — tötet pflanzliches Leben. Wer Fisch und Fleisch ißt, tötet tierisches Leben. Da sie menschliches Leben nicht höher bewerten als tierisches, sind sie sich deutlich der Tatsache bewußt, wie sehr sie ihr Leben den Pflanzen (ob kultiviert oder wild), Haustieren, dem Jagdwild, Vögeln und Fischen verdanken. Diese allgegenwärtige Dankbarkeit manifestiert sich in einer Vielzahl von Ernte- und Jagdritualen; in unzähligen Opfergaben an Vegetationsgötter und —göttinnen, an Pflanzenseelen und in rituellen Absprachen mit den Herren der Tiere, mit denen sie ein ökonomisch verträgliches Gleichgewicht verhandeln.
Aus diesen Gründen ist Naturvölkern und schamanischen Kulturen das Konzept einer rein vegetarischen Ernährung zutiefst wesensfremd! Selbst wenn Einzelne zu bestimmten Zeiten, Anlässen oder in gewissen Lebensabschnitten aus rituellen Gründen Diätvorschriften befolgen, die vor allem den Verzehr von "rotem Fleisch", bestimmten Tieren (und äußerst selten auch von Fisch) verbieten.
Im Kontext unserer westlichen Industriegesellschaften gibt es mannigfaltige triftige Gründe, auf den Genuß von Fleisch zu verzichten.
Weshalb auch immer wir uns als Vegetarier, "Fischköpfe" oder "Fleischfresser" outen obliegt letztlich unserer persönlichen Anschauung und Entscheidung.
Argumente Für und Wider mögen weltanschaulich, ökologisch oder gesundheitlich gerechtfertigt sein. Romantisch verklärte Verweise auf Naturvölker, die sich angeblich rein vegetarisch ernähren, sind jedoch in diesem Zusammenhang grundsätzlich verfehlt! Wer vegetarische Diätvorschriften in Indien oder Tibet ins Felde führt, verkennt, dass diese historisch auf die Anordnung von Brahmanenpriestern und buddhistischen Mönchen zurückzuführen sind und nicht auf naturgegebene Erfahrungen und Notwendigkeiten.
Frei nach der Devise "jedem Tierchen sein Plaisierchen" mag jede/r persönlichen Diätvorstellungen folgen und andere von missionarischem Eifer verschonen. Vor allem Kulturen, von denen wir keine Ahnung haben.